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Angriff an Jom KippurIsraels nationales Trauma
Marcel SerrDie ägyptisch-syrische Offensive am 6. Oktober 1973 traf Israel vollkommen überraschend und brachte die israelischen Streitkräfte (Israel Defense Forces, IDF) für einen kurzen Moment erstmals in der Geschichte des modernen Israel an den Rand einer Niederlage. Zwar gelang es den IDF letztlich, militärisch erfolgreich aus dem Konflikt hervorzugehen, doch versetzte der Überraschungsangriff Israel einen psychischen Schlag, dessen Nachwirkungen bis zum heutigen Tag spürbar sind. Zumal zum Zeitpunkt des Angriffes der höchste jüdische Feiertag - der Tag der Versöhnung (hebr. Jom Kippur) - begangen wurde, der einzige Tag, an dem das öffentliche Leben in Israel gänzlich stillsteht. So wird der Jom-Kippur-Krieg bis heute als traumatischstes Ereignis der Geschichte des modernen Staates Israel empfunden. Im Oktober 2013 jährt sich der Krieg zum 40. Mal. Grund genug, den vierten israelisch-arabischen Waffengang noch einmal aus drei Blickrichtungen Revue passieren zu lassen: Der historische KontextIm Sechstagekrieg 1967 war den israelischen Streitkräften ein atemberaubender Erfolg über die drei Nachbarstaaten Ägypten, Syrien und Jordanien gelungen. Die IDF benötigten nur sechs Tage, um die gegnerischen Streitkräfte beinahe vollständig aufzureiben und ein Territorium zu erobern, das dreieinhalbmal größer als das bisherige Staatsgebiet war (die Golanhöhen, Westjordanien und die Sinaihalbinsel). Israel gewann dadurch erstmals an strategischer Tiefe, wodurch sich die sicherheitspolitische Situation des jüdischen Staates immens verbesserte (siehe Abbildung 1). Die militärische Perspektive: Kräftegleichgewicht, Strategien, Taktiken und KriegsverlaufWurde im Sechstagekrieg noch hauptsächlich veraltetes Militärgerät verwendet, so hatten sich die militärischen Fähigkeiten der levantinischen Staaten bis 1973 erheblich verbessert. Was die Bewaffnung der Kontrahenten anbelangt, so standen sich im Nahen Osten Anfang der 1970er-Jahre die Waffensysteme der Supermächte USA (als Waffenlieferant für Israel) und Sowjetunion (als Ausstatter der arabischen Staaten) direkt gegenüber. Insgesamt waren die Kriegsparteien nun mit dem Modernsten ausgestattet, was die Waffenarsenale Washingtons und Moskaus zu bieten hatten.3) Die israelischen StreitkräfteUnter Berücksichtigung der prekären Sicherheitslage und des limitierten Bevölkerungs- und Wirtschaftspotenzials Israels war den Gründungsvätern der IDF klar, dass das Land zwar eine starke Armee benötigen würde, aber ein stehendes Heer nicht dauerhaft unterhalten könne. Die Lösung war ein aus drei Ebenen bestehendes Milizsystem:6)
Die ägyptischen und syrischen StreitkräfteDie Streitkräfte von Ägypten, Syrien und Jordanien waren im Sechstagekrieg erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden. Mehr als 80% ihres militärischen Geräts waren entweder zerstört oder von den Israelis erobert worden. Die Performance des ägyptischen und syrischen Militärs hatte 1967 erheblich zu wünschen übrig gelassen. Unmittelbar nach Ende des Sechstagekrieges begannen die ägyptischen und syrischen Streitkräfte mit ihrer Wiederaufrüstung. Unverzichtbarer Partner war hierbei der Kreml, der nicht nur neue Waffensysteme, sondern auch Tausende Militärberater nach Kairo und Damaskus sandte, die die Streitkräfte neu organisierten und die Ausbildung übernahmen. Ihr Einsatz bewirkte eine spürbare qualitative Verbesserung der arabischen Streitkräfte. Obgleich nach wie vor eine erhebliche qualitative Lücke zwischen den arabischen Streitkräften und den IDF bestand, hatten sich Erstere seit dem Sechstagekrieg damit deutlich weiter entwickelt. Erstmals wurden nun Manöver eingeübt, alltäglicher Drill hielt Einzug in die Kasernen, und man begann, den Gegner systematisch zu studieren.19) Die ägyptischen Soldaten erhielten ein intensives Training zur Überquerung des Suezkanals. Denn die Überwindung des Kanals war eine große Herausforderung: Der Kanal war 190-240 Meter breit und 20-25 Meter tief. Zudem hatten die Israelis direkt am Ostufer bis zu 20 Meter hohe und 10 Meter dicke Sanddünen aufgeschüttet, die in einem 45 Grad-Winkel von der Wasserlinie aufstiegen, sodass es amphibischen Landungsfahrzeugen unmöglich war, diese zu erklimmen.20) Die KampfhandlungenDie ägyptisch-syrische Offensive begann am 6. Oktober 1973 um 14:05 Uhr mit massivem Artilleriefeuer. Dank des Überraschungseffekts gelang es den ägyptischen Truppen, an der Suezfront relativ unbeschadet Brückenköpfe zu errichten und sich am Ostufer des Kanals festzusetzen (siehe Abbildung 4). Bereits 18 Stunden nach Kriegsbeginn standen 90.000 Mann, 850 Panzer und 11.000 Fahrzeuge auf dem östlichen Ufer des Suezkanals. Sie rückten nicht tiefer als 15 Kilometer in den Sinai vor und blieben somit unter dem Flugabwehrschirm der SAM- und Flakstellungen. Dadurch konnte die IAF erfolgreich am Eingreifen ins Kampfgeschehen gehindert werden. Auch einen unkoordinierten Gegenangriff der im Sinai stationierten IDF-Panzerbrigaden konnten die Ägypter zurückschlagen: Die israelischen Streitkräfte verloren in den ersten 18 Stunden rund ein Drittel ihrer im Sinai stationierten Panzer. Am Abend des 7. Oktober war die Bar-Lev-Linie für Israel komplett verloren. Am Morgen des 8. Oktober erreichten die Reservekräfte die Front und stießen auf massiven ägyptischen Widerstand. Ausgestattet mit tragbaren Panzerabwehrwaffen setzten die ägyptischen Infanteristen den israelischen Panzerverbänden schwer zu und fügten den IDF hohe Verluste zu. Israels militärische und politische Führung war schockiert.25) Die inner-israelische Perspektive: ein Geheimdienst-DebakelDie Geschichte des Jom-Kippur-Krieges ist aus israelischer Sicht in erster Linie die Geschichte eines kolossalen Versagens der Geheimdienste. In der langen Geschichte von geheimdienstlichen Fehleinschätzungen gibt es kaum ein anderes Beispiel, in dem ein Geheimdienst so viel über den Gegner, seine Fähigkeiten, Taktiken und Strategien wusste und dennoch die Intentionen des Gegners vollkommen falsch einschätzte. Die sicherheitspolitische Perspektive: über die Wirkung nuklearer AbschreckungAbschließend soll der Frage nachgegangen werden, ob und gegebenenfalls inwiefern Israels nukleare Abschreckung im Falle des Jom-Kippur-Krieges gescheitert ist. Denn der Angriff auf eine Atommacht durch zwei nur konventionell bewaffnete Staaten stellt einen bemerkenswerten Sachverhalt dar. ANMERKUNGEN:
1) Vgl. Uri Bar-Joseph: Israel’s 1973 Intelligence Failure. In: P. R. Kumaraswamy (Hrsg.): Revisiting the Yom Kippur War. London/Portland 2000, S.12. Abraham Rabinovich: The Yom Kippur War. The Epic Encounter that Transformed the Middle East. New York/Toronto 2004, S.25. Anwar el-Sadat: Unterwegs zur Gerechtigkeit. Die Geschichte meines Lebens. Wien u. a. 1979, S.284. |
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